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Wenn Schrankwände windschnittig werden

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Bei den Autos ist es schon lange eines der wichtigsten Themen: die Aerodynamik. „Flach“ ist angesagt, gerundete Flächen senken den Verbrauch und den Schadstoff-Ausstoß. Vorbei die Zeiten chromblitzender Stoßstangen und steil stehender Kühlergrills, und kein Scheibenwischer würde es heute noch wagen, keck hervorstehend auf der geneigten Windschutzscheibe zu sitzen. Und die Nutzfahrzeuge? Wenn man sich heute vor einen Lkw stellt, fällt einem zunächst der Vergleich mit einer Schrankwand ein: Steil, gerade, eine riesige Fläche. Haben die Entwickler wie Hersteller der Nutzfahrzeuge die letzten 30 Jahre eigentlich verschlafen?

Chefingenieur Georg Weiberg neben dem Aerodynamics Truck

Das habe ich auch Georg Weiberg, Chefingenieur von Daimler Trucks gefragt. „Wir können nicht einfach einen Truck nach unseren Wunschvorstellungen entwerfen“ sagt Georg Weiberg. „Es gibt wesentliche Aspekte, die man berücksichtigen muss: Zum Beispiel die Einhaltung der gesetzlichen Maße, also Länge, Breite und Höhe.“ Dafür, dass die LKW in Deutschland heute so aussehen, wie sie aussehen, nämlich ohne lange „Schnauze“ (sogenannte „Langhauber“ wie in den USA), war die Bundesregierung Adenauer in den 50er Jahren „verantwortlich“: Der damalige Verkehrsminister erließ eine Verordnung, nach der Lkw nur noch 14 Meter lang sein und 24 Tonnen wiegen durften. Eine wirklich drastische Kürzung: Denn bis dahin galt ein gesetzliches Höchstmaß von 20 Metern Länge und ein Gewicht von 40 Tonnen. Um die verfügbare Ladefläche weiterhin maximal auszunutzen, wanderte der Motor der LKW also unter das Fahrerhaus. Die Brummi-Fahrer der ersten „Plattnasen“, im Fachjargon „Frontlenker“ genannt, fluchten über den Lärm und die Hitze in der Kabine, saßen sie doch kaum gedämmt beinahe „auf dem Motor“. Das Konzept wurde über die Jahre immer weiter verbessert und den 80er Jahren fingen die Entwickler bei Mercedes-Benz erstmalig damit an, den Frontlenker-LKW zur Senkung von Spritverbrauch und Abgasen auch aerodynamisch zu optimieren. Denn fast 40 Prozent des Gesamtenergieaufwands, der notwendig ist, um einen LKW konstant 85 km/h fahren zu lassen, gehen allein auf Kosten des Luftwiderstands.

Mercedes-Benz Typ LS 329 Sattelzugmaschine mit Schenk Sattelauflieger, 1957-1959.

Die Tricks, mit denen man eine bessere Aerodynamik erreicht, liegen im Detail und müssen hart erarbeitet werden: „Der neue Mercedes-Benz Actros war 2.600 Stunden zu Optimierungen im Windkanal“ sagt Georg Weiberg. „Die Frontscheibe des Actros durfte nicht geneigt werden, weil sonst der für den Fahrer nutzbare Raum eingeschränkt worden wäre. Die Gesamtheit auch vieler kleiner Maßnahmen mit Verrundungen und auch nicht direkt sichtbaren Optimierungen unter der Kabine bringt den großen aerodynamischen Vorteil.“ Von der Summe der vielen Verbesserungen profitiert auch der neu entwickelte „Mercedes-Benz Aerodynamics Truck“: Er kann im Jahr bei einer Laufleistung von 50.000 km rund 350 Liter Diesel und damit bis zu einer Tonne CO2 einsparen.

Und dabei beschäftigen sich Georg Weiberg und sein Team nicht nur mit der Zugmaschine allein: Auf der IAA 2012 wurde erstmalig der „Aerodynamics Trailer“ vorgestellt. Das Optimieren des gesamten Gespanns bringt wirkliche Vorteile: Mit dem Trailer spart ein Fernverkehrs-Sattelzug im Jahr rund 2000 Liter Dieselkraftstoff und seinem Betreiber damit fast 3000 Euro Kosten. Gleichzeitig wird die Umwelt um mehr als fünf Tonnen CO2-Emissionen pro Jahr entlastet. Zahlreiche Einzelmaßnahmen am Aerodynamics Trailer verringern den Luftwiderstand des gesamten Zugs. Ein Anströmkörper an der Stirnwand des Trailers reduziert den Abstand zur Zugmaschine und senkt den Luftwiderstand bereits um ein Prozent. Der Anströmkörper rahmt das Kühlaggregat ein, Luftschlitze gewährleisten die notwendige Be- und Entlüftung. Die Seitenverkleidungen aus Kunststoff des Aerodynamics Trailer tragen sogar acht Prozent zur Verbesserung des Luftwiderstands bei. Sie sind vorne leicht eingezogen und hinten von einem Durchbruch gekennzeichnet. Er lenkt die vorbeiströmende Luft in Richtung des „Heckdiffusors“. Praxistauglich ist der Aerodynamics Trailer auch: Sein Heckflügel schwenkt beim Be- und Entladen automatisch um etwa zehn Grad nach oben und gibt die Türen des Heckportals frei. Die seitlichen Flügel des Einzugs klappen bei Stillstand des Lkw mit Hilfe von elektrischen Stellmotoren automatisch nach innen auf die Türblätter. Obendrein sieht ein solches Gespann mit sogenanntem „Boat-Tail“ (also „Bootsheck“) auch noch ziemlich cool aus.

Werden also in Kürze alle Lkw-Gespanne so und noch stärker optimiert? „Der Ball liegt wieder beim Gesetzgeber“ sagt Georg Weiberg dazu. „Die Grenzen bei der Entwicklung sind durch die gesetzlich vorgegebenen Längen- und Höhenabmessungen sehr eng. Es gibt erste Ansätze, für aerodynamisch wirksame Anbauteile mehr Bauraum zur Verfügung zu stellen, aber noch ist diese Regelung nicht aktiv.“

Aerodynamische Studien 1985 und 2011

Aber nochmal zurück zu den „Langhaubern“: „Haben nicht Trucks wie z.B. Freightliner naturgemäß eine bessere Aerodynamik?“ frage ich Georg Weiberg. „Aus der physikalischen Grundform heraus ja, jedoch wäre diese dann in Europa nicht alltagstauglich. Daher ist der optimierte Frontlenker der beste Kompromiss“ so Georg Weiberg. Ich hake nach: Wie sähe ein Lkw aus, den man ohne gesetzliche Vorgaben völlig frei aerodynamisch designen könnte? „So wie der neue Actros mit dem Aerodynamics Trailer oder unser Aerodynamics Truck sagt Georg Weiberg entschlossen. Eins steht jedenfalls fest: Wie Actros und Aerodynamics Trailer beweisen, steckt noch viel Potential in der „Schrankwand“. Die jetzt erreichten Einsparungen bei Dieselverbrauch und die Senkung von Emissionen in Verbindung mit den neuen Euro VI-Motoren sind enorm.

Zum Abschluss ein paar Bewegtbildaufnahmen vom Truck und vom Trailer sowie einige Einblicke in die Entwicklung im Windkanal.


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